Eine kniende Frau küsst ein Kind im Gegenlicht auf die Stirn.
Eine behütete Kindheit ist nicht jedem und jeder vergönnt. Im Fall eines angeklagten Teenagers sieht sein Verteidiger gar ein "toxisches Familienumfeld".
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Wien – "Spring die alte Hure an und fick sie und beiß sie" ist von Haus aus keine Aufforderung an seinen Hund, erst recht nicht, wenn es sich bei der erwähnten Gunstgewerblerin um die eigene Mutter handelt. Diesen Satz soll der 18-jährige Herr M. aber laut Staatsanwalt unter anderem gesagt haben, ebenso wie: "Ich werde dich töten, du alte Hure, du hast eh schon lange genug gelebt!" Die Anklagebehörde hat den unbescholtenen Österreicher wegen Raubes und fortgesetzter Gewaltausübung zum Nachteil seiner Mutter und Großmutter vor das Schöffengericht unter Vorsitz von Daniel Potmesil gebracht. Seit 2020 soll er die weiblichen Verwandten immer wieder körperlich attackiert, bespuckt und beschimpft haben, die Mutter soll er mehrmals bedroht und ultimativ aufgefordert haben, ihm Geld zu geben.

Der Arbeitslose weist wie sein Verteidiger die Vorwürfe strikt von sich. "Ich habe mich nur gewehrt!", erklärt er zum Vorwurf der fortgesetzten Gewaltausübung. "Was kann man darunter verstehen?", interessiert den Vorsitzenden. "Ich schubs sie weg", präzisiert der nicht einmal 1,60 Meter große Jugendliche. Potmesil blendet auf dem Monitor vor dem Angeklagten ein Bild der Mutter ein, auf dem gerötete Stellen auf ihrem Bauch zu sehen sind. Wo die herkommen könnten, will der Vorsitzende wissen. "Vielleicht habe ich sie da beim Wegstoßen erwischt. Oder sie ist gefallen", mutmaßt der Angeklagte. Seine Mutter behauptet etwas anderes: Er habe ihr am 5. Jänner des Vorjahres einen Faustschlag gegen den Bauch versetzt, sagte sie bei der Polizei aus.

Angeklagter sieht Verschwörung

Das Problem sei, dass seine Mutter psychisch krank sei, aber ihre Tabletten nicht nehme, behauptet M., dass die Pensionistin grundlos ausraste und ihn angreife. Warum jeweils die Mutter die Polizei alarmierte und mehrere Betretungsverbote gegen ihn erwirkte, ehe sie ihn mit seinem 18. Geburtstag im vergangenen Herbst aus der Wohnung warf, kann er nicht schlüssig begründen. Mittlerweile wohnt er bei seiner Großmutter, auch dort gab es bereits mehrere Einsätze der Exekutive. "Die Oma ist alt und vergesslich. Die Mutter überredet sie, eine Anzeige zu machen. Dann sind zwei gegen mich", sieht der Teenager sich als Opfer.

"Seit wann sind Sie denn ohne Job?", will Potmesil vom Angeklagten wissen. "Schon immer!", hört er als Antwort. "Warum haben Sie sich keinen gesucht?", fragt der Vorsitzende weiter. "Ich habe mir eh was gesucht. Am nächsten Montag erfahr ich, ob ich eine Lehrstelle bekomme", antwortet der 18-Jährige, der keine staatlichen Transferleistungen bezieht. Das Geld scheint er sich von der Mutter zu holen, sein Verteidiger argumentiert, das seien nur Darlehen, die Mutter habe auch Schuldscheine von ihrem Sohn.

Mit dem Auftritt der 63-Jährigen als Zeugin wird man daran erinnert, sich den 12. Mai im Kalender anzustreichen und dass man vielleicht ein Gedicht lernen sollte, um seiner Mutter seine Dankbarkeit zu zeigen. "Er war nie ein Mensch!", sagt die Frau beispielsweise über ihren Sohn, den sie immer wieder als Betrüger bezeichnet. "Er geht nicht zur Arbeit und macht gar nichts", beschwert sie sich. Verstörenderweise kann sie dem Vorsitzenden nicht sagen, ob der Angeklagte je in psychiatrischer Behandlung gewesen ist oder je fremduntergebracht war. "Warst du je woanders?", fragt sie ihren Sohn, der meist den Kopf von ihr wegdreht. Aus den Jugenderhebungen geht hervor, dass M. mit zehn Jahren in ein Krisenzentrum gekommen ist.

Angriffe seit zwei bis drei Jahren

Seit er 15 oder 16 Jahre alt sei, sei er gewalttätig gewesen, sagt sie. Schläge, Tritte, Würgen und Spuckattacken seien regelmäßig vorgekommen, einmal habe der Sohn ihr einen Nachttisch nachgeworfen. Seit er sich vor ein oder zwei Jahren einen Husky zugelegt habe, sei es nur schlimmer geworden. Sie habe Angst vor Hunden, das Tier habe auch die Großmutter einmal so heftig gebissen, dass ihre Hand genäht werden musste, schildert die Zeugin. Der Sohn habe das Tier auch als Ausrede benutzt, sagt sie: "Ich kann nicht arbeiten gehen, ich habe einen Hund!", lautete demnach seine Argumentationslinie.

Allzu konsequent kann die Mutter aber auch nicht gewesen sein, wie ein Amtsvermerk der Polizei zeigt. Demnach hat sie sich im Dezember 2022, vier Tage nachdem gegen den Sohn ein Betretungsverbot ausgesprochen worden war, bei den Beamten gemeldet und gefragt, ob er nicht doch wieder zurückkommen könne. "Mein Sohn tut mir so leid, er braucht ja jemanden, der sich um ihn kümmert", erklärte sie damals. Auch heute bringe er noch seine Schmutzwäsche vorbei und frage immer wieder nach Geld. Das sie ihm dann doch stets gab, da sie Angst vor einer Szene hatte und fürchtete, die Nachbarn würden sich über den Radau beschweren und sie ihre Gemeindewohnung verlieren.

"Woran ist Ihre Ehe vor zehn Jahren gescheitert?", fragt der Verteidiger. "Der hat auch nichts gearbeitet. Der ist den ganzen Tag nur vor dem Computer gesessen und hat gechattet", sagt die Frau über ihren Ex-Gatten, der nach der Scheidung in die Türkei zurückkehrte. "Wenn es so furchtbar mit Ihrem Sohn sein soll, warum kontaktieren Sie ihn dann ständig?", will der Verfahrenshelfer auch wissen. "Ich kontaktiere ihn nicht!", empört sich die Zeugin – worauf der Angeklagte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche nimmt und dem Vorsitzenden gibt. Potmesil sieht sich die Kommunikations-App an, zählt nach und ist erstaunt: "Am Montag gab es 34 entgangene Anrufe oder verschickte Sprachnachrichten von Ihnen, am Dienstag waren es 30", widerlegt er die Angaben der Zeugin. "Er kontaktiert mich auch!", kontert die Mutter.

Großmutter verweigert Aussage

Die 86 Jahre alte Großmutter macht von ihrem Recht Gebrauch, nicht gegen ihren Enkel aussagen zu müssen. "Warum host ned ausgsogt?", will die Mutter wissen, nachdem die alte Dame neben ihr im Zuseherraum Platz genommen hat. "I kau ned", entgegnet die Greisin.

Aus den verlesenen Erhebungen der Jugendgerichtshilfe erfährt man, dass die Staatsanwaltschaft M. ursprünglich eine Diversion angeboten hatte – ein außergerichtlicher Tatausgleich samt Bewährungshilfe war geplant. Der Angeklagte kam allerdings kaum zu den verpflichtenden Terminen, sodass die Anklage doch eingebracht wurde. Aus Sicht des Staatsanwalts zu Recht: "Er hat ein massives Problem mit seiner Impulskontrolle", hält der Ankläger in seinem Schlussvortrag fest. "Man muss sich natürlich die Frage stellen: Wie wird man so? Da spielt die Sozialisierung eine gewisse Rolle, die Erziehungsberechtigten haben sicher Fehler gemacht", gesteht er zu. Dennoch sei der 18-Jährige zu verurteilen.

Der Verteidiger entgegnet in seinem Schlussplädoyer, dass die Aussage der Mutter nicht schlüssig gewesen sei. Sie habe auch nicht erklären können, warum sie sich nicht externe Hilfe geholt habe, wenn sie angeblich drei Jahre lang geschlagen und drangsaliert worden sei. Außerdem sei es völlig unglaubwürdig, dass die Mutter die einzige Zielperson der Aggression sein soll. "Wenn er tatsächlich so ein Problem mit der Impulskontrolle hätte, dann hätte es auch mit anderen schon etwas gegeben", verweist der Rechtsvertreter auf die Unbescholtenheit seines Mandanten.

Zehn Monate bedingt

Auf den Hinweis des Vorsitzenden, dass er das letzte Wort habe oder sich den Worten seines Verteidigers anschließen könne, deutet der Jugendliche nur stumm mit dem ausgestreckten Zeigefinger über seine recht Schulter in Richtung seines Anwalts. Daraufhin zieht sich der Senat über eine halbe Stunde lang zur Beratung zurück, ehe Potmesil um 13.30 Uhr das Urteil verkündet: Wegen zweier Raubversuche und der fortgesetzten Gewaltausübung gegen die Mutter wird M. zu zehn Monaten bedingter Haft verurteilt. Zusätzlich wird Bewährungshilfe angeordnet, der Teenager muss ein Antigewalttraining absolvieren und sich bemühen, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen.

Aus Sicht des Gerichts habe sich "ein sehr stimmiges Bild" ergeben, begründet der Vorsitzende die Entscheidung. "Es muss eine fürchterliche oder, sagen wir besser, höchst unerfreuliche Situation gewesen sein. Kein Jugendlicher sollte so aufwachsen", sieht Potmesil durchaus ein Versagen der Alleinerzieherin. "Wir glauben, dass es Herrn M. nicht gut gegangen ist, aber es ist alleine schon aufgrund der körperlichen Verhältnisse unglaubwürdig, dass Ihre Mutter Sie immer attackiert haben soll", stellt der Vorsitzende klar. "Wir sind überzeugt, dass Sie sich nicht unter Kontrolle haben!"

Während der Verteidiger sofort Nichtigkeit und Berufung anmeldet, ist der Staatsanwalt mit dem nicht rechtskräftigen Urteil einverstanden. (Michael Möseneder, 28.3.2024)