Volker Braun, der heute in Berlin lebt und dieser Tage 85 Jahre alt wird: Sein neuer, brillanter Band nennt sich "Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben".
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Von der eurasischen Landmasse, schreibt der sächsische Dichter Volker Braun, führt kein Weg hinaus in eine "Anderwelt". Der Doppelkontinent ist von menschlicher Arbeit imprägniert. Selbst die ihn umklammernden Ozeane, Atlantik und Pazifik, sind mit historischer Fracht beladen. Sie tragen die Lasten des Neokolonialismus. Die Einträge in den Seekarten werden ergänzt durch Anmerkungen von Außenseiterfiguren wie Ezra Pound (ein ehedem berühmter Dichter) und Ernest Mandel (ein ehedem berühmter Trotzkist). Alles zusammen ergibt ein Gewimmel "von Öl und Blut".

Braun, der Träger des Georg-Büchner-Preises von 2000, feiert dieser Tage seinen 85. Geburtstag. Die Bewegungsrichtung seiner Poesie hat mit den Volten zu tun, die der Geist schlägt. Für Braun verkörpert sich dieser neuerdings in China.

Manches aber liegt in Eurasien verschüttet. Im neuen, schlanken Braun-Buch – man zögert, es einen Essayband zu nennen – wird auch das Festland, die "Leipziger Tieflandbucht", zum Fanggrund von Metaphern. Im Text schwimmen sie obenauf.

Wer mehr wissen möchte, muss dementsprechend tiefer schürfen. Fahrten hinab in die tiefsten Gesteinsschichten, ein "Tun und Lassen im Eingeding mit dem Tod", so Braun, erzeugen Schwindel und Not. Sie bereiten keine geringere Verlegenheit als Ozeanüberquerungen. Oder Intrakontinentalreisen, wie sie der mongolische Großkhan laut dem Zeugnis Marco Polos unternahm. Der Khan spannte seiner aufgebockten Jurte – ihr Umfang hätte jedem Zirkus zur Ehre gereicht – ein Gespann von 20 Ochsen vor.

Zurück nach China

Schwimmt der "dialektische Lachs" nach Ende der Geschichte, und Hegel sah dieses bekanntlich in Preußen verortet, zurück ins Reich der Mitte? Braun selbst bewegte sich niemals mit der Strömung. Innerhalb der Lebenswelt der DDR – deren Projekt er sich vielfach verpflichtet wusste – gab er einen verlässlichen Störenfried ab. Den SED-Machthabern, die den Dresdner nur widerwillig als einen der ihren anerkannten, hatte er die meisterliche Beherrschung der Dialektik voraus. Die der Literatur und ihrer Formen sowieso.

Der Titel des neuen Buches, Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben, gleicht einer Ortsbestimmung der Einsamkeit. Brauns Dichtungen stehen mit ihrem flackernden Ernst in der ausgesprochen dünn gezogenen Traditionslinie Georg Büchners (siehe auch den Preis): Insofern sie plebejisch sind, ergreifen sie Partei.

Als strikt parteiische halten sie es jeweils mit den progressiven Kräften. Es sind alle möglichen Formen der Vergesellschaftung, die dieser gedankenlyrische Kopf ventiliert. Braun schreibt Klartext: Seine Essays (wortwörtlich: Versuche) bezeichnen Tätigkeiten. Es sind allesamt solche, die bewirken sollen, dass man, wenn nicht obenauf, so doch wenigstens bei sich ist – und gerade stehen bleibt.

Ballungsräume

"Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten": Volker Braun belehnt die Dialogform Diderots. Er besucht einen "Enzyklopen" (Gesellschaftswissenschafter) auf La Palma. Er sinnt nach über die Aussichten einer Generation, deren Hände auf dem Asphalt kleben. Es hilft nichts, Veränderungen im Weltmaßstab im Wege zu stehen. "So wie die Hungermärsche Metropolen vergewaltigen und den englischen Rasen betreten. Wir werden Bastarde sein." Wo? "In der Pampa der Ballungsräume, an den Algentafeln des Weltmeers."

"Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben": Als Volker Braun erstmals in einer Ostberliner Buchhandlung las, war dem DDR-Fernsehen das Debüt des Spröden einen eigenen Beitrag wert. Ulbricht, den "Spitzbart", veranlasste die erstmalige Erscheinung von jemandem wie Braun zum Ausruf: "Der soll nach China gehen!" Brauns Replik atmet, ein halbes Jahrhundert später, die Weisheit Brechts: "Was immer er damit sagen wollte, es war eine Ansage."

Eine der wichtigsten Ansagen dieses hinreißenden Büchleins, das ebenso poetisch wie politisch ist, steht zum Ende hin. Die kommenden Aufgaben werden uns Überlebende, die nicht besonders trittsicher agieren am Müllberg der Geschichte, vollauf beanspruchen. "Das wird eine Menschheits-Tagschicht sein, eine Weltarbeit, nach den Weltkriegen." (Ronald Pohl, 30.4.2024)