Anti-Regierungsdemonstration in Tel Aviv.
Auch auf Kundgebungen in Israel machen viele Menschen regelmäßig ihrem Ärger über die Regierung Luft.
IMAGO/Itai Ron

Könnte es einen internationalen Haftbefehl gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu geben? Seit mehr als einer Woche scheint jemand in den Regierungskreisen des Landes großes Interesse daran zu haben, Gerüchte über drakonische Maßnahmen des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag zu streuen. Diese stünden kurz bevor, heißt es. Und kein Tag vergeht, an dem sich nicht einer der Gefolgsleute Netanjahus über diese angeblich schon bald drohenden Maßnahmen empört.

Worum es geht: Schon seit 2021 führt der Strafgerichtshof ein Verfahren wegen möglicher Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten. Ein wahrscheinliches Ergebnis der Ermittlungen sind Anklagen gegen Vertreter der Hamas. Der Zeitraum der Ermittlungen erstreckt sich bis ins Heute, umfasst also auch die Massaker am 7. Oktober und alles, was danach geschah. Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Karim Khan, zählte die Hamas-Massaker zu den "gravierendsten Verbrechen" weltweit. Er erklärte die Causa im vergangenen Dezember zur Priorität, gab aber auch an, sein Auge auf die israelische Kriegsführung in Gaza zu richten.

Dass israelische Militärs, Verteidigungsminister oder sogar Regierungschefs eines Tages angeklagt werden könnten, steht schon seit Beginn der Ermittlungen vor drei Jahren im Raum und ist durchaus möglich. Dass es jedoch schon in den kommenden Tagen Haftbefehle geben könnte, die neben Netanjahu auch Verteidigungsminister Joaw Gallant und Generalstabschef Herzi Halevi betreffen sollen, ist ein Gerücht, das von einem israelischen Nachrichtensender aufgebracht wurde.

Recht auf Selbstverteidigung

Seither herrscht helle Aufregung, Netanjahu nutzte die Gelegenheit, sich als Schutzherr der Israelis gegen Angriffe aus Den Haag darzustellen. "Israel wird niemals akzeptieren, dass der Internationale Strafgerichtshof sein Recht auf Selbstverteidigung untergräbt", verkündete er auf X. Netanjahu versprach, sich bei US-Präsident Joe Biden dafür einzusetzen, dass dieser in Den Haag das Schlimmste verhindert. Detail am Rande: Weder die USA noch Israel haben sich der Jurisdiktion des Strafgerichtshofs unterworfen.

Fast konnte man meinen, es sei alles nur ein Schreckgespenst. Nun will die französische Tageszeitung Le Monde aber eine Bestätigung aus dem Strafgerichtshof selbst erhalten haben – von einer "gut informierten Quelle", die anonym bleiben möchte. Dieser Quelle zufolge stehe in der Causa Palästinensergebiete ein "Ereignis kurz bevor". Worin dieses Ereignis besteht und wen es betreffen könnte, blieb zunächst vage.

In Israel halten es Experten wie Pnina Sharvit-Baruch vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) für möglich, dass das Gerücht von den USA verbreitet wurde, um Israel zur Mäßigung im Gazakrieg zu bewegen. Was nicht unbedingt bedeuten muss, dass es frei erfunden ist. Der Gerichtshof könnte tatsächlich schon bald beschlussreif sein, was Maßnahmen gegen israelische und palästinensische Akteure betrifft. Dass die Sache ausgerechnet jetzt an die Öffentlichkeit dringt, scheint sich aber ganz gut in den Spin bestimmter Kräfte zu fügen.

Warten auf Rafah-Offensive

Für Netanjahu ist das Schreckgespenst Den Haag ein passender Sündenbock, um den Stillstand in Gaza zu rechtfertigen: Die lange angekündigte Rafah-Offensive lässt weiter auf sich warten. Netanjahu hatte zwar erklärt, es gebe schon "ein Datum" dafür, er war aber klug genug, dieses Datum nicht zu nennen. Ein neuer Geiseldeal mit der Hamas wiederum ist zwar in Verhandlung, allerdings zu – aus israelischer Sicht – deutlich schlechteren Bedingungen. Netanjahu muss sich die Frage gefallen lassen, warum er die Zugeständnisse, zu denen Israel heute bereit ist, nicht schon vor Monaten gemacht hat. Einige der mittlerweile verstorbenen Geiseln wären da noch am Leben gewesen.

Angenommen, es wird Haftbefehle gegen israelische Funktionäre geben, könnten sie sich gegen verantwortliche Politiker oder Ex-Politiker richten, aber auch gegen Generäle der Armee. Ein solcher Haftbefehl würde 124 Staaten – darunter Österreich – verpflichten, die betreffende Person dem Gerichtshof auszuliefern, sollte sie das Land betreten. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 30.4.2024)